G. Gahlen: Nerven, Krieg und militärische Führung

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Titel
Nerven, Krieg und militärische Führung. Psychisch erkrankte Offiziere in Deutschland (1890–1939)


Autor(en)
Gahlen, Gundula
Reihe
Krieg und Konflikt
Erschienen
Frankfurt am Main 2022: Campus Verlag
Anzahl Seiten
852 S.
Preis
€ 64,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Süsler-Rohringer, Lehrstuhl für Europäische Geschichte, Ludwig-Maximilians-Universität München

Gundula Gahlen hat eine detailreiche Studie über den Umgang mit psychisch versehrten Offizieren in Deutschland zwischen Fin de Siècle und Vorabend des Zweiten Weltkrieges vorgelegt, wobei der Schwerpunkt auf den Jahren 1914–1918 liegt. Es handelt sich dabei um die überarbeitete Fassung von Gahlens Habilitationsschrift an der Freien Universität Berlin.

Die Forschung hat sich bereits intensiv mit dem Umgang mit psychisch versehrten (Mannschafts-)Soldaten des Ersten Weltkrieges in Deutschland zwischen 1914 und 1939 befasst.1 In vielerlei Hinsicht bestätigt Gahlen daher Befunde vorangegangener Studien. Trotzdem gelingt es ihr, neue Erkenntnisse herauszuarbeiten, die über die primäre Forschungslücke – die kaum untersuchte Behandlung von psychisch versehrten Offizieren – hinausreichen. Lange Zeit hat sich die Forschung zu psychischen Versehrungen während des Ersten Weltkrieges auf den psychiatrischen Fachdiskurs beschränkt. Jüngere Untersuchungen haben anhand der Krankenakten bereits die Diskrepanz zwischen Diskurs und Behandlungspraxis aufgezeigt.2 Gahlen geht weiter und zeigt, wie einflussreich die Eigenlogiken des Militärs als Organisation und des Offiziersstandes als Sozialverband waren. Medizinisches Wissen war nur einer von mehreren Begründungszusammenhängen für militärische Handlungsweisen.

Eine der großen Stärken der Studie ist die multidimensionale Darstellung des Untersuchungsgegenstandes: Gahlen untersucht (1) militärische sowie wohlfahrtsstaatliche Diskurse und Praktiken, (2) den (militär-)psychiatrischen Fachdiskurs, (3) die medizinischen Behandlungsformen sowie (4) die Selbsterzählungen der betroffenen Offiziere. Diese Forschungsachsen durchziehen die fünf Teile der Studie in unterschiedlicher Gewichtung. Die Struktur der Monografie folgt jedoch primär einer chronologischen Ordnung: (I) Der Umgang mit psychischen Leiden bei Offizieren im Kaiserreich bis 1914, (II) Die Nerven der Offiziere als militärisches Problem: Diskurse und Handlungsstrategien des Ersten Weltkrieges, (III) Offiziere in psychiatrischer Behandlung im Ersten Weltkrieg, (IV) Leidenserfahrungen und Selbstbild psychisch versehrter Offiziere im Ersten Weltkrieg, (V) Psychisch versehrte Offiziere außer Dienst (a.D.) und der Umgang mit psychischen Leiden bei militärischen Führern in der Zwischenkriegszeit.

Gahlen kann zeigen, dass die Kriterien bei Auswahlverfahren von Offizieren von Kontinuitäten geprägt waren, die vom Fin de Siècle bis in die frühen 1940er-Jahre reichten. Medizinische Aspekte blieben für lange Zeit eher zweitrangig. Bis in die 1920er-Jahre existierten formal keine höheren Ansprüche an die Tauglichkeit von Offizieren als an Mannschaftssoldaten. Vielmehr sollte das Selektionsverfahren den gesellschaftlichen Elitenstatus des Offiziersstandes festigen, soziale Herkunft, Standesbewusstsein und Korpsgeist waren daher zentrale Faktoren.

In Bezug auf den Ersten Weltkrieg bietet Gahlen einen differenzierenden Blick auf den Einfluss der Münchner Kriegstagung von 1916. Dort wurde als Lehrmeinung durchgesetzt, dass Neurosen psychogene Leiden seien, die jedoch nicht der Krieg verursache. Stattdessen entstünden sie aufgrund einer pathologischen Konstitution des Betroffenen. Nicht dieser psychiatrische Fachdiskurs, sondern die hohe gesellschaftliche Anerkennung des Offiziersstandes prägte jedoch den Umgang mit psychisch versehrten Offizieren im Ersten Weltkrieg. Nicht nur wurden sie zumeist in gesonderten Einrichtungen behandelt, die luxuriöser ausgestattet waren und über ein besseres Betreuungsverhältnis verfügten, sondern auch Diagnosen und Therapieformen waren andere als für Mannschaftssoldaten. Der Weltkrieg brachte hier zwar auch Verschiebungen, so folgte die Diagnose von Neurasthenie oder Hysterie nicht mehr so stark Klassenunterschieden wie noch vor 1914. Offizieren wurde nun ebenfalls die gesellschaftlich weniger akzeptable „Hysterie“ attestiert, die zuvor vor allem auf Angehörige der unteren sozialen Schichten angewandt worden war. Trotzdem waren Offiziere im Gegensatz zu Mannschaftssoldaten kaum mit dem Simulationsvorwurf konfrontiert und medizinische Diagnosen wurden in der militärischen Kommunikation häufig auf standeskonforme(re) Krankheitsbilder abgemildert. Das weiterhin gültige Beförderungskriterium der Anciennität bewahrte psychisch versehrte Offiziere zudem vor Karrierenachteilen. Schließlich setzten Ärzte bei Offizieren stärker auf ihre psychischen Selbstheilungskräfte durch Erholung und Kontakt zu anderen Offizieren. Dies erklärt Gahlen vor allem mit der gemeinsamen Kriegserfahrung sowie dem Korpsgeist der Offiziere und dem Zugehörigkeitsgefühl zahlreicher Ärzte zum Offiziersstand während des Ersten Weltkrieges.

Trotz eines Bedeutungsgewinns der Psychiatrie blieben militärische Gesichtspunkte während des Weltkrieges bestimmend. Dennoch eigneten sich Offiziere selektiv psychologische Erklärungsmodelle und Konzepte an. Insbesondere der Diskurs um „starke Nerven“ und einen „starken Willen“, welcher die gesellschaftlichen Debatten im Kaiserreich spätestens seit der Jahrhundertwende prägte, wurde von der militärischen Führung übernommen. „Nervenstärke“ galt zum einen als kriegsentscheidende Qualität, welche das deutsche Militär fördern sollte. Zum anderen bestimmte das Konzept der „starken Nerven“ auch die Deutungsrahmen der Offiziere. Einerseits waren sie darum besorgt, aufgrund ihrer „Nerven“ nicht den Erwartungen an ihren Stand und ihre militärische Funktion gerecht zu werden. Andererseits ermöglichte ihnen der Nervendiskurs kriegsbedingte psychische Erkrankungen zu erklären: Wie körperliche Kraft erschöpfe sich auch die Nervenstärke bei Belastung. Psychische Erkrankungen seien daher (potenziell reversible) Überlastungserscheinungen aufgrund der Kriegserfahrungen.

Gahlen demonstriert zudem, dass Veränderungen auf verschiedenen Handlungsfeldern nicht synchron verliefen, sondern unterschiedlichen Geschwindigkeiten folgten. Auf dem Feld der Sozialpolitik stellte das neue zivile Versorgungssystem für Kriegsversehrte der Weimarer Republik einen entscheidenden Bruch im Verhältnis von Offizieren und Ärzten dar. Dieser resultierte zum einen aus der egalitären Ausrichtung der Sozialpolitik als Reaktion auf die krassen Unterschiede der wilhelminischen Militärversorgung zwischen Offizieren und Mannschaftssoldaten. Trotzdem hatten Offiziere auch hier zunächst eine privilegiertere Stellung als Mannschaftssoldaten, da sie über mehr Optionen verfügten. Denn sie hatten die Möglichkeit, sich für die Versorgung nach der wilhelminischen Offiziersversorgung oder nach der republikanischen Kriegsversehrtengesetzgebung zu entscheiden. Zum anderen löste die zivile Sozialpolitik für Kriegsversehrte Rentenfragen großteils aus militärischen Entscheidungsstrukturen, sodass Ärzte nicht mehr als Teil des Offiziersstandes auftraten, wie dies während des Ersten Weltkrieges der Fall gewesen war.

Im Gegensatz dazu konnte das Militär in der Personalpolitik der republikanischen Reichswehr seine Entscheidungssouveränität gegenüber psychiatrischen Auswahlverfahren behaupten. Zentrale Dimensionen der wilhelminischen Offiziersselektion blieben daher aufrecht, auch wenn mit der Einführung von psychologischen Testverfahren 1927 das Selektionsprocedere stärker als zuvor medikalisiert wurde. Erst die erneute Aufrüstung unter dem nationalsozialistischen Regime 1935 sowie der Offiziersmangel durch den Zweiten Weltkrieg brachten hier tiefgreifende Veränderungen. Das NS-Regime betrieb eine soziale Öffnung der Offizierslaufbahn, solange die Kandidaten ideologisch angepasst waren, und propagierte ein Bild des Offiziers, das an Leistung und Einzelkämpfertum orientiert war. Anders als im Ersten Weltkrieg beurteilten Ärzte Offiziere nun primär nach militärischen Effizienzkriterien und auf längerfristige Erkrankungen reagierte man mit scharfen Disziplinar- und Therapiemaßnahmen, wie etwa die für die Patienten schmerzhafte Elektroschockbehandlung.

Auch sozialpolitisch stellte das NS-Regime eine Zäsur dar. Die positiven Erwartungen, die viele Offiziere mit der NS-Herrschaft verbanden, erwiesen sich als trügerisch. Nicht nur ebnete das NS-Regime Standesunterschiede zwischen Offizieren und Mannschaftssoldaten noch weiter ein, es etablierte zudem die Erkenntnisse der Münchner Kriegstagung von 1916 als Prinzipien der Rentenzuerkennung. Psychisch Kriegsversehrten wurden in der Folge Renten gekürzt oder aberkannt. Darüber hinaus wurden auch psychisch erkrankte Offiziere der Sterilisierungs- und Tötungspolitik des NS-Regimes unterworfen.

Gahlen legt somit eine umfassende Studie zu psychisch versehrten Offizieren im Deutschland der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor. Gerade angesichts der Multidimensionalität der Monografie wäre jedoch am einigen Stellen mehr interpretatorische Führung von Seiten der Autorin hilfreich gewesen. Zum Teil tritt die Analyse hinter deskriptive Passagen zurück, insbesondere im dritten Abschnitt über die psychiatrische Behandlung während des Ersten Weltkriegs. Zum Teil stehen empirische Befunde nebeneinander, ohne dass sie analytisch zusammengeführt werden. Gahlen erklärt etwa den milden Umgang von Vorgesetzten mit psychisch versehrten Offizieren mit Korpsgeist und der „gemeinsamen Kriegserfahrung“. Sie zeigt jedoch ebenso gekonnt, wie der Krieg die Sozialstruktur und Erfahrungshorizonte des Offiziersstandes veränderte und von einer „gemeinsamen Kriegserfahrung“ nur noch eingeschränkt gesprochen werden kann. Denn die Erfahrungswelten und Deutungshorizonte des Krieges zwischen Front- und Stabsoffizieren traten zunehmend auseinander. Trotz dieser Kritikpunkte hat Gahlen eine differenzierte und lesenswerte Studie vorgelegt.

Anmerkungen:
1 Eine Auswahl jüngerer, vergleichender Sammelbände aus der breiten Forschungsliteratur: Thomas Becker u. a. (Hrsg.), Psychiatrie im Ersten Weltkrieg, Konstanz 2018; Hans-Georg Hofer / Cay-Rüdiger Prüll / Wolfgang Eckart (Hrsg.), War, Trauma and Medicine in Germany and Central Europe (1914–1939), Freiburg 2011; Julia Köhne / Peter Leese / Jason Crouthamel (Hrsg.), Languages of Trauma. History, Media, and Memory, Toronto 2021.
2 Eine Auswahl: Petra Peckl, What the Patent Records Reveal: Reassessing the Treatment of „War Neurotics“ in Germany (1914–1918), in: Hofer / Prüll / Eckart (Hrsg.), War, Trauma and Medicine, S. 139–159; Livia Prüll / Philipp Rauh (Hrsg.), Krieg und medikale Kultur. Patientenschicksale und ärztliches Handeln in der Zeit der Weltkriege 1914–1945, Göttingen 2014.

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